Was soll das bedeuten?
AUF DER LORELEY
Kristine von Soden


Die Wirklichkeit scheint sich redliche Mühe zu geben, dem Klischee zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Wir jedenfalls wagen an diesem verregneten Julitag unseren Augen kaum zu trauen:
Japaner über Japaner, die von der Loreley auf den Rhein hinunterschauen. Klick. Klick. Klick. Schnell ist das Panorama stromabwärts mit dem Wohnwagen-Idyll von St. Goar eingefangen. Dabei ist dies noch gar nicht der offizielle Aussichtspunkt, sondern erst der Parkplatz (in der vordersten Reihe, unmittelbar am Felsenrand, sind nur Busse zugelassen).

Die Lay, die Lore, die vom Felsen springt, warum? Wie war jetzt Geschichte von der Frau und keiner andern? Auf der Vorderbühne steht der Dom, in den wird sie gezwängt, in der Pause wird umgebaut, dann steht der Felsen auf der Vorderbühne, von dem springt sie, das ist das Ende vom Lied, und der Anfang? Ist in Bacharach und fängt so an, wie alle Lieder anfangen, die so anfangen, daß der Mann da ist, und so weitergehn, daß er weg ist und die Frau wartet, daß er wiederkommt...

Uns fällt hier die Theatergeschichte aus dem Jahr 1987 von Ulla Berkéwitz ein. Über die Lay, die Lore, die Lure, die Hure, "singen sie am Rhein". Die sich rot, weiß und schwarz anstreicht, die Männer unter ihre Röcke zieht, lacht und lacht, die Röcke unten zuzieht, bis die Männer ersticken und das Lachen weitergeht.

Das hört der Bischof von Worms, da kriegt der Interesse und läßt sie sich kommen. Aber weil die Lay Röcke wie die Maria trägt, sieht der Bischof nur auf die Röcke.
Und weil in den ältesten Dommauern noch ein Hauch von jenem hängengeblieben ist, der hier mal war, am Anfang, als deshalb die Lieder davon am Ende so gut wie am Anfang waren, fällt der Lay ein, daß der Mann bei ihr war, als ihr Lied anfing, und da hört ihr Lachen auf.

Wer die Loreley nur vom Rheinufer aus kennt oder von einem Rhein-Rundfahrtendampfer, ahnt kaum, daß die Strecke von St. Goarshausen auf den 120 Meter hohen Felsen zunächst zu einem Plateau führt. Etwa nach der halben Wegstrecke zweigt links ein Weinllehrpfad ab. Natürlich heißt er "Loreley". Genauso wie weiter vorrn der Campingplatz oder rechts das Jugendheim. 1979 dichtet Peter Rühmkorf:

Ich reise mit Gedichten umher,
paar Mal rundumerneuert
seit Achtzehnhundertichweißnichtmehr
Heirich Heine die Lore beleiert.

Dann sind wir da. Werden empfangen von Tiefgaragencharme. Eine Schranke geht hoch. Auf dem Asphalt lauter Kippen, Dosen und Eispapier im Gebüsch. Warum ist es auf der Loreley so schön? Ist es überhaupt schön? Sollen wir nicht lieber gehen? Schon 1932 spottete Erich Kästner:


Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,
ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen,

wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen,
von blonden Haaren schwärmend, untergingen.

Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen.
Der Rhein ist reguliert und eingedämmt.
Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen,
bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.

Inzwischen hat ein nächster Bus mehrere Dutzend Menschen ausgespuckt. Die Männer tragen die Handtaschen ihrer Frauen, die Frauen tragen weiße Söckchen. Und weil es zu tröpfeln beginnt ("Keine Angst", beschwichtigt der Busfahrer, der um die gute Laune bangt, "der Regen ist ganz warm!"), kommen die Frisuren unter eine Plastikhaube. Schnurstracks macht sich die Truppe auf zum Aussichtspunkt. Aha. Anschließend gibt es den gebuchten Kaffee und Kuchen. Victor Auburtin, der Weimarer Feuilletonist, hätte seine Freude gehabt und Kniebeugen empfohlen:

Auf dem Gipfel des Loreleyfelsens ist ein Turnplatz eingerichtet worden; mit Reck und Barren, und mit einer Halle für den Fall schlechter Witterung. Auch an Wirtschaftsgebäuden, Restaurants, Bedürfnisanstalten und so weiter ist kein Mangel zur Veranstaltung der nötigen Festlichkeit... Die deutsche Turnerschaft hat durch die Vermittlung des Turngaues Südnassau den Felsen gekauft (was man heutzutage nicht alles kaufen kann!), und die Anlage ist sehr stilvoll geraten.

Zur Lore (= summen/rauschen) und Ley (= Felsen) ist alles gesagt. Bald fünfzigmal wurde allein Heines Gedicht vertont. Ungezählt blieben die weinseligen Lieder, Klavierstücke, Kantaten, Walzer, Ballette, Ouvertüren und sogar auch Opern (rund 50 an der Zahl - unter den Komponisten Schumann und Liszt, Johann Strauß Vater und George Gershwin), von denen sich allerdings kaum eine behauptet hat. Das fand Wolfgang Minaty heraus, der 1988 eine Anthologie von Gedichten, Prosa, Bildern zusammengestellt hat.
Das "Märchen aus alten Zeiten", das gar kein Märchen ist, sondern eine Erfindung des Clemens Brentano, verwandelte den Felsen bei Stromkilometer 554 in eine Frau ("Zu Bacharach am Rheine/Wohnt eine Zauberin"). Bis dahin hatten um ihn herum, so glaubte man im Mittelalter, lediglich Zwerge und Gnome, Nymphen und Oreaden gehaust. Im 13. Jahrhundert wähnte man hier zudem den Ort, wo der Nibelungenhort versenkt sei. Plötzlich dann die Schöne, die eine Affäre hat, sich umbringt und andere mit ins Unglück stürzt. Aus diesem Stoff fabrizierte 1818 Aloys Wilhelm Schreiber eine Rheinsage und brachte diese in seinem Handbuch für Rheinreisende unters Volk (im Unterschied übrigens zu den Grimms, die die reale Herkunft der jungen Dame aus Bacharach kannten und sie darum nicht in ihre Sammlung aufnahmen). Zwanzig Jahre später ersann Friedrich Silcher passende Noten zur goldblonden Sirene Heinescher Provenienz- und diese avancierten beinahe zur Nationalhymne. 1888 Jean Erlanger:

Ich weiß nicht, warum miserabel
Zu Muth mir und ich so moros.
Eine längst antiquirte Fabel
Läßt mich partout nicht los!

Das Thermometer sinket,
Phlegmatisch fließt der Rhein.
Die Bergterrasse blinket
Superb im Abendschein!

Dort oben hat sich placiret
Ein Mädchen charmant in der That;
Sie ist mit Brillanten garniret
Und macht Toilette gerad'.

Mit gold'nem Kamm sich frisirend
Eine Arie sie intonirt,
Die, complet elektrisirend,
Ganz virtuos komponirt!

Den Schiffer im Liliputkahne
Ergreift vehemente Weh!
Er sieht nur die Courtisane
Dort oben im Negligé!

Enfin, das Ende der Fabel:
Er sank mit Eclat in den Rhein,
Und dafür ist responsabel
Die Loreley allein!

Auf unserer Fahrt zurück nach St. Goarshausen machen wir einen Abstecher nach Patersberg, einem verschlafenen Fachwerkdorf am Ende einer serpentinenreichen Straße. Kleine, bescheidene Häuser, eine Wehrkirche aus dem 12. Jahrhundert, in der Dorfmitte erinnert eine Tafel daran dass hier 1556 ein Ziehbrunnen gegraben wurde, vor dem eine alte Linde stand, unter der "die Väter des Dorfes" zusammenkamen. Patersberg wirbt mit seinem "Dreiburgenblick", wohl weil sonst kein Mensch herkäme. Dabei ist die Aussicht am Dorfrand hoch über dem Rhein eine der beeindruckendsten weit und breit: rechts Burg Katz, vis-à-vis die Ruine Rheinfels, links die Burg Maus mit dem Loreleyfelsen im Hintergrund. Der geographische Abstand zum dortigen Rummel tut gut und macht es möglich, Rose Ausländer in Ruhe zuzuhören:

Unter dem Rhein
singt die Lorelei

Fische
verschweigen das Lied

Ein hellhöriger Angler
fängt es heraus

schenkt es
uns allen

 

Aus: Soden, Kristine von: Der Rhein. Eine literarische Reise von Mainz bis Köln, Stuttgart 2000, S. 117-123.