Rom, Blicke
von Rolf Dieter Brinkmann

Rom 1972
Als ich aus dem Zug gestiegen war und an der langen Reihe Wagen entlangging zur Halle hin, verlängerte sich wieder der Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung beträchtlich, wieder überall Zerfall, eine latente Verwahrlosung des Lebens, die sich in der riesigen Menge der winzigen Einzelheiten zeigt - und vielleicht hatte ich immer noch Reste einer alten Vorstellung in mir, daß eine Weltstadt wie Rom funkelnd sein würde, bizarr, blendend und auch gefährlich für die Sinne - eben ein wirbelnder Tagtraum und voll rasanter Betriebsamkeit, statt dessen war da ein grauer Zug erschlaffter Reisender, die stumpfe Monotonie der Bahnhofshalle, zwischen den Ankommenden die italienischen Kulis mit großen eisernen Schubkarren - ich hatte vielleicht gedacht, ich würde bereits am Hauptbahnhof in ein verwirrendes Miniatur-Labyrinth kommen - schließlich ist Rom doch eine Weltstadt - ich fragte mich, ob inzwischen Italien eigene italienische Gastarbeiter einstelle - unterwürfig im Verhalten, wirklich Kulis: diese Atmosphäre habe ich weder in London gesehen, auch nicht in Amsterdam oder einem sonstigen großen Bahnhof - ratternde Eisengestelle, serviles Verhalten, bettelnde Angebote, die aus faden, verblaßten Gestalten kamen. Sie drangen vom Rand des Blickfeldes her ein und erhielten tatsächlich bei näherem Hinsehen keine eindeutige Kontur. So etwas gibt es tatsächlich! "Auch ich in Arkadien!" hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden.


19.10.72. / Via Veneto - Nachtaufnahme: ausgelaugt, leergesogen, das ist die Situation der Umgebung die verstaubt ist - und insofern lügt diese Postkarte nicht - kein Mensch ist zu sehen, aber 1 Volkswagen sieht man im Vordergrund. / Gespenstische Gegenwart auch hier - erschreckende Abwesenheit von Menschen - nur noch einige touristische Zuckungen, die sich an historischen Resten delektiert. / Ein Ersticken in Häßlichkeit wird gegen die Augen betrieben / Habe ich zu viel oder zu wenig geträumt? / Plötzliches Grauen - blind, taub, stumm müßte man sein, um die Gegenwart ertragen zu können, aber das ist ein Wunsch nach Selbstverstümmelung und kein erstrebenswertes Ziel. / So gehe ich durch die Straßen, in größer werdendem Widerwillen - immer weiter von den Leuten fort? - sind die wahre Pest, egal ob arm oder reich / Was ist aber das, was noch da ist? / Überall Autos, nix Amore, umgekippter Müll plus Pizzas / Und noch ein Sonnenuntergang - tatsächlich arbeitet nur die Sonne umsonst, der Mond, die Wolken, der Wind, Sterne, Pflanzen, Tiere - Leben ist ganz wild durcheinander / Wohin? Weiter! / Das Viertel rundum leblos, lungernde Jugendliche, umgekippte schwarze Plastiksäcke voll Abfälle / genaugenommen stolpert man durch nichts als Ruinen, und zwischen diesen Ruinen scharrt das alltägliche Leben zwischen den Abfällen nach einigen lebenswerten Brocken - sobald man dieses alltägliche Leben auch nur etwas wichtig nimmt - ein Leben in staubigen Resten der abendländischen Geschichte / :dazwischen Mietskasernen und Polizeiquartiere, Unkrautfelder und das Hotel Ritz / die Schüler gehen mit Comicheften und Comicbüchern zu Schule / ein alter runtergekommener Park voll Verstümmelter, die Glieder abgeschlagen, die Rümpfe zerfressen - je verstümmelter, desto schöner - was für eine menschliche Umgebung! / Geld konfus / habe das Gefühl, ich wüßte jetzt hier Bescheid und könnte wieder abfahren - was ist los? / Ein Stück weißer Mond über kaputten Pinien - und? //:

[...]

Stundenlanges Warten an öffentlichen Stellen, für Briefmarken, für Taxis, die gewöhnlichsten Dinge, Hähnchen rotieren in grauer Bleiluft enger Straßen, Soldaten sitzen direkt vor Auspuffrohren draußen vor den Cafes und blicken leer drein, ständiges Grimassieren südländischen Temperaments, aber die Augen sehen starr aus, man muß sich einmal darauf konzentrieren, dann merkt man es, von Modeillustrierten verseuchte gewöhnliche Fotzen, aufgetakelt, und miese Demi-Monde eklig das ungenierte Sack-Kratzen auf der Straße von ondulierten Herren und Todesmelodie-Pop-Slum-Jungen großstädtischen Verschnitts, jucken und kratzen sich und verschieben ihre Schwengel in den zu engen Hosen, an Straßenecken faltige Maroni-Verkäufer die heiße Maronen in Fetzen von Seiten alter Telefonbücher wickeln, wildes Gedränge und Gewühle auf den staubigen Straßen, aber der Himmel ist sehr hoch und klar und flammende Sonnenuntergänge wegen des nahen Meers, Amerikanerinnen wie falsche Fuffziger nach Parfum stinkend quaken breit herum, man trifft sie überall wie auch Deutsche, also rotgesichtiges fleischerhaftes Glotzen aus Touristenbussen, Busse vollgestopft mit deutschen Rentnern, Diabetikern, Magenkranke, mit fußkranken Rentnerinnen, die dich aus den Fenstern anstarren, Vorgarten-Greise auf Sight-Seeing-Tour schaukeln glotzig in Bussen vorbei, fliegende Händler bieten Nippen-Feuerzeuge und Postkarten an, am Sonntag, als ich nachmittags meinen ersten Spaziergang machte und mir die zerfallenen ochsenroten oder kotig-gelb gestrichenen viereckigen Häuser ansah, dachte ich: ich gehe durch einen zerfallenen Traum und trat im gleichen Moment in Hundescheiße ein paar Schritte weiter war eine Kachel neben dem Eingang der Villa mit dem antiken bellendem Hund und Cave Canem1. Auf den Kanalisationsdeckeln steht S. P. Q. R.2 recht zutreffend. Um 6 Uhr spitze Pfiffe der Verkehrspolizisten an allen Ecken. Blicke in Kellerlöcher, wo sie kellnern und schneidern. Dann die hohen quäkenden italienischen Frauenstimmen Straßenszenen, die ein durchgehender Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen sind. "Auch ich in Arkadien!, Göthe.

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Im Hintergrund einer breiten mehrspurigen Asphaltstraße stand der Schutthaufen des Kolosseums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stolleneingänge denken ließen. - Neben mir, zur einen Seite der Via Dei Fori Imperiali, eine tiefergelegene Schrotthalde und eingezäunt. - Altes Zeitungspapier über 3 Tausend Jahre geweht, Säulen-Reste, Rundbögen-Stümpfe, Stein-Klötze - wüst durcheinander, Bruchstücke von Wänden, Andeutungen von Treppenstufen - in der Ecke eine große Rolle rostender Stacheldraht - und eine Katze, die geräuschlos am Rand entlangstreicht. 3 Säulen standen sinnlos hoch.
Über schwarze große Basaltbrocken ging ich dann an dem Trümmerfeld hoch, vielleicht habe ich innerlich gegrinst - aufgerissene Rollbahnen eines Flugplatzes in Vechta3- Bombentrichter voll Wasser - eingefallene Hallen - Zementmatten, die aus Eisengerüsten hängen - grünes Sprühen einer Brandbombe - lautlos abbrennendes Stangenpulver nachmittags - Metallwracks von Flugzeugen - geborstene Plexiglasscheiben der Flugkanzel - kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilzkappen herunterschweben - Unkraut wuchert das Gelände zu. Hier und da eine Trümmerecke herausgerissen von elektrischem Licht.

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Der Wahnsinn: in der schmalen, holprigen Straße, links und rechts noch geparkte Autos, durch stumpfe Schatten düster verhangen und aus der stumpfen Düsternis herausbrechend die hellen Löcher der zum Teil offenen Räume, ein schwerer Überland-Transporter, der hupt, weder vor noch zurückkann. - Der Unterschied zwischen Autos und Menschen hat aufgehört. Die einzelnen Gestalten drücken sich in die verschlissenen Schatten der Mauern, Eingänge, Torbogen, und hervor treten die Autos. -
Eine Straße nach der anderen verstaubter und überalterter, hier die Via Monserato, in altem Gemäuer vollgestopfte Fahrradwerkstätten, ölgefleckte Wesen bewegen sich unter einer Glühlampe hin und her zwischen Feigen, Speichen, Schraubenschlüsseln, Schläuchen und Haken. - Im Vorübergehen fällt der Blick in einen bleichen kargen, etwas tiefer gelegenen Raum, nur Wände, ohne Schmuck, und Tische und Stühle und ein Fernsehgerät, in dem Raum nur Männer, älter, in Anzügen. - In der Nähe Campo dei Fiori: ein kleiner Platz mit der Statue Giordano Brunos, der da verbrannt worden ist - große Pfützen, mit aufgeweichten Lappen Papier darin, und überall die irritierende, schummerige Düsterheit, in der die Gebäude nach oben hin verschwimmen - die anwesenden Leute sind nicht genau zu erkennen, man muß überall angestrengter hinstarren erst, sobald sie in den Umkreis einer Straßenlampe treten, konturieren sich die Typen - an der Ecke noch einer der vielen Straßenzeitschriftenstände mit Playmate-Aushang: ein grünes Trikot spannt sich eng um den modischen Körper und zeichnet den Schamhügel genau nach - vor 450 Jahren wurden hier Menschen verbrannt - genau hier auf diesen Steinen, in dieser Häuserkulisse - "Dem Bruno gewidmet, von dem Jahrhundert das er vorausahnte, hier, wo sein Scheiterhaufen brannte" - über die Sockelinschrift hängen schlaffe haarige verschwommene Gestalten - einige verlodderte Flötentöne - einer haut mich von der Seite an um eine Zigarette - die tief ins Gesicht gezogene Kapuze des ehemaligen Mönchs verwischt im Dunkeln darüber - "Zigarette? Signore?" [...]
Donnerstag sind alle Läden nachmittags zu. Es war Donnerstag. - Muschelige Monstren, breit ausgefächert, Bernini, wieder mal, geronnen in römischen Nachtschwarz mit Lichtflecken, die Luft lau, weißgefleckt, die Weite des rechteckigen Platzes angenehm. - da sind diese heftigen Wechsel: vergammelte elende Straßen, düstere Seitengassen, und dann so ein Platz, der Gegensatz kann nicht krasser sein, und auf dem Platz drängen sich hängend die Bewohner der Seitenstraße. - "Jubelrufe in Stein?": ach, Quatsch! - "Ewiges Rom?": na, die Stadt jetzt ist das beste Beispiel dafür, dass die Ewigkeit auch verrottet ist und nicht ewig dauert - Rom ist, das habe ich schnell begriffen, eine Toten-Stadt: vollgestopft mit Särgen und Zerfall und Gräbern - wie kann man da von Ewigkeit faseln? [...]

1 =Hüte dich vor dem Hund
2 =senatus populusque Romanus = Der Senat und das römische Volk
3 Geburtsstadt Brinkmanns

 

Aus: Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt, Frankfurt/M., S. 30-36.

 

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Zu dem Tagebuchauszug gehören Fotos, die Brinkmann während seines Rom-Aufenthaltes gemacht hat. Diese Fotos befinden sich ebenfalls in dem Sammelband von Enzenberger. Da sie leider eine sehr schlechte Qualität aufweisen und es sich daher nicht lohnte, sie zu skannen, habe ich beschlossen eine eigene Auswahl von Fotos zur Veranschaulichung als pdf-Folie zu erstellen. Die Folie wurde auch im Unterricht eingesetzt.

Rombilder

 

Hintergrundinformationen zu Brinkmann befinden sich auf der Homepage der
Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft E.V.