SCHWEIZ
Stein und Wasser
Die Schweizer Alpen aus der Sicht eines leidenschaftlichen Schwimmers
von John von Düffel

Ob ich nicht Lust hätte, eine Geschichte über ein abgelegenes Dorf in den Bergen zu schreiben, fragte der Regisseur und Filmemacher in etwa tausend Kilometer Entfernung. "Berge?", fragte ich zurück. Ich stand in Hamburg auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, und mit dem Handyempfang war irgendetwas nicht in Ordnung. Ja, Berge, sagte er unaufgeregt, ihn würde die Geschichte eines kleinen Bergdorfes interessieren, irgendwo in den Schweizer Alpen, nur Steine, Schweigen und Schnee, ob ich mir vorstellen könnte, darüber zu schreiben?
An diesem Punkt muss ich kurz etwas klarstellen. Meine Eltern sind früher viel umgezogen. Ich wuchs mal hier, mal da auf. Was Heimatgefühle angeht, bin ich von daher nicht so festgelegt. Doch all die wechselnden Landschaften meiner Kindheit hatten eines gemeinsam: Sie lagen am Wasser und waren flach. Berge kannte ich im Grunde nur von der Durchreise - auf dem Weg nach Italien in die Sommerferien. Berge, das waren die Sichtbehinderungen, die am Straßenrand aufragten und mitunter von endlosen Tunneln durchbohrt wurden. Schon als Kind dachte ich bei einem Berg als Erstes an die Länge des Tunnels. Und das Erraten von Tunnellängen ist mir noch heute als Beifahrer ein lieb gewordener Zeitvertreib. Mit anderen Worten: Ich fühlte mich nicht gerade berufen, die Geschichte eines Schweizer Bergdorfes zu erzählen. Doch es sprang immerhin eine Reise für mich heraus. Also sagte ich ja.
Basel Die Idee war, zunächst eine kleine gemeinsame Expedition zu machen, sozusagen in der Hoffnung, dass der Berg zu uns spricht. Der Regisseur würde mit mir in ein paar abgelegene Dörfer fahren, um mögliche Schauplätze zu besichtigen. Der Rest wäre Schreiben. Das konnte doch nicht so schwer sein.
Trotzdem war mir etwas mulmig, als ich in Hamburg in den Zug stieg. Geplant war, dass ich erst einmal bis Basel fahre und dort übernachte. Am nächsten Morgen würde ich dann weiterreisen nach Brugg, um dort den Bergregisseur zu treffen. Man müsse früh aufbrechen, meinte er, denn in den Tälern werde es schnell dunkel. Ach, dachte ich und begriff dann, wegen der Berge natürlich!
Der Zwischenstopp in Basel tat gut. Auf diese Weise konnte ich mich mental schon einmal auf die Berge vorbereiten. Die fangen zwar erst hinter Basel an, aber auch in Basel selbst geht es, wie ein berühmter Dichter schrieb, ein bisschen rauf, ein bisschen runter - was im Vergleich zu Hamburg einem Schweizer Bergdorf schon näher kam.
Und außerdem war da der Rhein, an dem ich mich immer zu Hause gefühlt habe. Graugrün und mächtig teilt er die Stadt. Allerlei Wirbel und Quirle spielen auf seiner dämmernden Oberfläche, so als wäre er hier noch gar nicht ein einziger Fluss wie später bei Karlsruhe oder Köln, sondern das Zusammenströmen vieler verschiedener Gewässer: von Bächen, Flüssen und dem Schmelzwasser aus den Bergen, das nach Schnee roch.
Auf meinem späten Spaziergang in Basel am Rhein hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dem Glück auf der Spur zu sein. Es war ein seltsames Wiedersehen mit dem Fluss, weil ich versuchte, in seiner Unruhe immerzu etwas von der Berglandschaft zu erkennen, die mir bevorstand. Und gleichzeitig bewegte das dahingleitende Wasser so viele Erinnerungen an Schwimmausflüge, Brückensprünge und das Treibenlassen in dem schnellgängigen Strom.
Windisch Ich schwor mir strikte Wasserabstinenz, als ich am nächsten Morgen in Brugg aus dem Zug stieg. Der Bergspezialist unter den Filmemachern holte mich ab, und ich schaffte es, nicht vom Rhein zu reden, als er mich fragte, wie meine Reise gewesen sei. Stattdessen ließ ich, sooft es ging, das Wort "Berg" fallen und versuchte, dabei nicht an Tunnellängen zu denken.
Aber wir fuhren von Brugg aus gar nicht direkt in die Berge, sondern zuerst nach Windisch, in den Nachbarort, wo der Regisseur im Begriff war, sich auf dem Gelände einer alten Spinnerei ein Loft von der Größe eines Tennisplatzes auszubauen. Die stillgelegte Fabrik lag auf einer Insel in der Reuß, an deren Spitze sich der Fluss teilte. Auf der einen Seite drängte das dunkelgrüne Wasser in einem schnell fließenden Arm unter Gebäuden und Brücken hindurch auf die Flutharken der alten Turbinen zu, die von der Kraft des Wassers vibrierten. Auf der anderen Seite floss der über ein Wehr herabstürzende Strom gemächlich in seinem breiten Bett aus rund gewaschenen Findlingen und moosigen Ufersteinen.
Es war unmöglich, an diesem Ort nicht vom Wasser zu sprechen. Und der Regisseur erklärte mir bereitwillig, man nenne diese Gegend auch das "Wasserschloss", nicht etwa weil es ein solches Bauwerk gebe, sondern weil sich an diesem Punkt die wichtigsten Flüsse der Schweiz zusammenschlossen. Die Reuß aus dem Süden, die Limmat aus dem Osten und die Aare aus dem Westen vereinigten sich hier und mündeten dann in den Rhein. Ich war völlig verwirrt.
Der Regisseur mehrerer einschlägiger Bergfilme hatte Mühe, mich von den Brückengeländern und Flussufern loszueisen, als wir zu seinem Wagen zurückgingen. Grünes, frisches Wasser umgab uns, wo ich auch hinschaute, wirbelnd und einladend klar! Von den Häusern am Reuß-Ufer führten Treppen hinab in den Fluss. Im Sommer stiegen die Anwohner hier ins Wasser, um sich von dem Strom bis zur nächsten Brücke tragen zu lassen. Für einen leidenschaftlichen Schwimmer wie mich war es geradezu unvorstellbar, diese Flusslandschaft hinter mir zu lassen, ohne auch nur einmal ins Wasser gesprungen zu sein und seine geschmeidige Kühle auf meinen Schläfen gespürt zu haben. Doch es war einige Grade unter null.
Was mir denn für eine Geschichte vorschwebe, fragte mich der Regisseur, als wir wieder im Wagen saßen und durch Windisch kurvten. Ich schwieg. Zum einen, weil ich die letzten Flussansichten nicht verpassen wollte. Zum anderen, weil sämtliche Geschichten, die mir im Moment durch den Kopf gingen, Geschichten vom Wasser waren.
Isenthal Schweigend durchquerten wir die Alpen. Von den Bergen war nicht viel zu sehen. Hochnebel hatte eingesetzt und das Panorama in winterliche Grauschleier gehüllt. Felswände verloren sich schon nach wenigen Metern in undurchdringlichem Dunst. Einzig die Tunnel deuteten unmissverständlich darauf hin, wo wir uns befanden. Und ich ertappte mich dabei, wie ich unwillkürlich versuchte, anhand der Tunnellänge auf die Höhe der Berge zu schließen. Die Strecke kam mir aus Kindertagen bekannt vor. Als wir den Vierwaldstätter See schräg unter uns liegen sahen, sagte ich nichts.
Wir verließen die Autobahn und fuhren in einer Schleife auf die Urner Alpen zu, um eines der weniger besiedelten Ost-West-Täler anzusteuern. Eisblauer Dunst durchbrach die gleichförmige Nebeldecke und fiel wie in sich überschlagenden Wellen die Steilhänge herab. Kälteblau, konstatierte der Bergkenner knapp. Wir kamen noch einmal fast auf Wasserspiegelhöhe am Vierwaldstätter See vorbei, dann ging es in Serpentinen steil und unerbittlich aufwärts.
"Ich hoffe, du hast keine Höhenangst", sagte der Regisseur, während wir uns durch blauende Schneelandschaften den Berg hinaufwanden. Höhenangst nicht, dachte ich bei mir, nur Angst vor der Tiefe. Ich schaute über die Leitplanken abwärts, sah aber nur ein paar Meter zerklüfteten Stein, der in bauschige Wolkenmeere hinabtauchte. Schnee und Nebel wurden immer dichter, die Straße verengte sich zusehends. Für entgegenkommende Fahrzeuge war schon lange kein Platz mehr. Mir wurde auf einmal bewusst, dass uns auf der ganzen Strecke keine Menschenseele begegnet war. Wir näherten uns Isenthal.
Der Regisseur hatte hier oben vor Jahren einen Film gedreht: die Geschichte eines Bergbauern, der sich eine Asiatin kauft und heiratet, um die Einsamkeit zu besiegen - was das ganze Dorf gegen ihn aufbringt. Dabei bekam es der Regisseur schon sehr bald selbst mit dem Dorf zu tun. Um überhaupt eine Dreherlaubnis zu erhalten, musste er der Gemeinde seine Filmidee vorstellen, wohlgemerkt, nicht einem Gemeinderat oder sonst einer Vertretung, sondern sämtlichen Dorfbewohnern. Dann wurde basisdemokratisch abgestimmt. Eine knappe Mehrheit war für den Film, unter einer Bedingung: Das Team musste in den beiden verfeindeten Dorfkneipen gleich viel Geld ausgeben.
Wir hielten auf einem verschneiten kleinen Parkplatz vor dem Friedhof und stiegen aus. Isenthal bestand aus einer Dorfkirche mit einem irreal roten Zwiebelturm und vielleicht 20 geschindelten Häusern. Mit seinen beiden Kneipen war es das Zentrum des Tals. Aus den Bergen kamen die Bauern mit selbst gebauten Seilbahnen in den Ort. Allerdings gingen Mann und Frau so gut wie nie zusammen aus. Einer musste immer oben bleiben, um die Seilbahn zu bedienen.
Ich war in eine völlig fremde Welt geraten und fühlte mich wie der unbefugteste Alpinist aller Zeiten. Der Regisseur ließ den Wagen stehen und marschierte entschlossen weiter bergauf. Er wollte zu dem Hof, auf dem seinerzeit sein einsamer Filmbauer gehaust hatte.
Wir hatten keine 500 Meter zurückgelegt, als sich der Nebel auf einmal lichtete. Schroffe Felswände erhoben sich ringsum, überzogen von Schneeadern und dünnen Vegetationsstreifen. Die kantigen, marmorweißen Gipfel erstrahlten in der untergehenden Sonne und ragten wie ausgeschnitten in den unverwandt blauen Himmel.
Wir stiegen noch 100, 200 Meter höher und hatten jetzt auch freie Sicht ins Tal, wo das Dorf im Schneekugelformat vor sich hin träumte. Ein Wunder, dass es plötzlich so aufgeklart sei, staunte ich. "Thermik", sagte der Regisseur.
"Und was ist das?" Das Knattern naher und ferner Motorsägen war für einen Moment verstummt und ließ ein beständiges Rauschen hören, das die gesamte Stille des Tals zu umfassen schien. "Das?" Der Regisseur horchte kurz auf. "Der Bach." Er zeigte auf eine verästelte schwarze Furche im Schnee, die auf einen ovalen Kolk zulief, wo sich das Schmelzwasser glitzernd sammelte.
Das Felsenbecken war vielleicht zweieinhalb Meter tief, doch man konnte bis auf den Grund sehen, wo sich die Kiesel wie hinter einem blaugrünen Schleier einzeln abzeichneten. "Blaugrün" war nicht ganz das richtige Wort.
"Wenn du hier ins Wasser spuckst", grinste der Regisseur, "dann fließt es durch den Vierwaldstätter See die Reuß hinab zum Wasserschloss und weiter in den Rhein." Ich starrte auf das zusammenströmende Wasser mit dieser unfassbaren Farbe, die weder türkis war noch aquamarin, sondern bei aller Klarheit den Eindruck einer ungeheuren Tiefe, ja Ferne vermittelte. Es war - gewissermaßen - Kälteblau!
"Was ist", erkundigte sich der Regisseur, eher besorgt als neugierig, "hast du eine Idee?" - "Kann sein", murmelte ich und versuchte dabei, möglichst nachdenklich auszusehen, aber in Wirklichkeit war ich einfach nur glücklich.


Quelle: die zeit

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