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Verona
Verona,
den 17. September.
Was ich von Gemälden gesehen, will ich nur kurz berühren und
einige Betrachtungen hinzufügen. Ich mache diese wunderbare Reise
nicht, um mich selbst zu betriegen, sondern um mich an den Gegenständen
kennen zu lernen; da sage ich mir denn ganz aufrichtig, daß ich
von der Kunst, von dem Handwerk des Malers wenig verstehe. Meine Aufmerksamkeit,
meine Betrachtung kann nur auf den praktischen Teil, auf den Gegenstand
und auf die Behandlung desselben im allgemeinen gerichtet sein.
St. Giorgio ist eine Galerie von guten Gemälden, alle Altarblätter,
wo nicht von gleichem Wert, doch durchaus merkwürdig. Aber die unglückseligen
Künstler, was mußten die malen! und für wen! Ein Mannaregen,
vielleicht dreißig Fuß lang und zwanzig hoch! das Wunder der
fünf Brote zum Gegenstück! was war daran zu malen? Hungrige
Menschen, die über kleine Körner herfallen, unzählige andere,
denen Brot präsentiert wird. Die Künstler haben sich die Folter
gegeben, um solche Armseligkeiten bedeutend zu machen. Und doch hat, durch
diese Nötigung gereizt, das Genie schöne Sachen hervorgebracht.
Ein Künstler, der die heilige Ursula mit den elftausend Jungfrauen
vorzustellen hatte, zog sich mit großem Verstand aus der Sache.
Die Heilige steht im Vordergrunde, als habe sie siegend das Land in Besitz
genommen. Sie ist sehr edel, amazonenhaft jungfräulich, ohne Reiz
gebildet; in der alles verkleinernden Ferne hingegen sieht man ihre Schar
aus den Schiffen steigen und in Prozession herankommen. "Die Himmelfahrt
Mariä" im Dom, von Tizian, ist sehr verschwärzt, der Gedanke
lobenswert, daß die angehende Göttin nicht himmelwärts,
sondern herab nach ihren Freunden blickt.
Italienische
Reise, S. 45 f.
Venedig
So
stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß
ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer
Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen
einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese
Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei
Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich
so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.
Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere,
welche Eil' haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich
mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig
Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes
mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch
angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel
von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte
mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten
freundlichen Jugendeindruck.
Ich bin gut logiert in der "Königin von England", nicht
weit vom Markusplatze, und dies ist der größte Vorzug des Quartiers;
meine Fenster gehen auf einen schmalen Kanal zwischen hohen Häusern,
gleich unter mir eine einbogige Brücke und gegenüber ein schmales,
belebtes Gäßchen. So wohne ich, und so werde ich eine Zeitlang
bleiben, bis mein Paket für Deutschland fertig ist, und bis ich mich
am Bilde dieser Stadt satt gesehen habe. Die Einsamkeit, nach der ich
oft so sehnsuchtsvoll geseufzt, kann ich nun recht genießen; denn
nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, wo man sich allen
ganz unbekannt durchdrängt. In Venedig kennt mich vielleicht nur
ein Mensch, und der wird mir nicht gleich begegnen.
Italienische Reise, S.
63.
Rom
Rom,
den 1. November 1786.
Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt! Wenn ich
sie in guter Begleitung, angeführt von einem recht verständigen
Manne, vor funfzehn Jahren gesehen hätte, wollte ich mich glücklich
preisen. Sollte ich sie aber allein, mit eignen Augen sehen und besuchen,
so ist es gut, daß mir diese Freude so spät zuteil ward.
Über das Tiroler Gebirg bin ich gleichsam weggeflogen. Verona, Vicenca,
Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig und
Florenz kaum gesehen. Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß,
wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, daß kein Bleiben mehr war,
und ich mich nur drei Stunden in Florenz aufhielt. Nun bin ich hier und
ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht,
man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen
sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner
Jugend seh' ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder, deren ich mich
erinnere (mein Vater hatte die Prospekte von Rom auf einem Vorsaale aufgehängt),
seh' ich nun in Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen,
Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange gekannt, steht
nun beisammen vor mir; wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in
einer neuen Welt; es ist alles, wie ich mir's dachte, und alles neu. Ebenso
kann ich von meinen Beobachtungen, von meinen Ideen sagen. Ich habe keinen
ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden, aber die alten
sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, daß
sie für neu gelten können.
Da Pygmalions Elise, die er sich ganz nach seinen Wünschen geformt
und ihr soviel Wahrheit und Dasein gegeben hatte, als der Künstler
vermag, endlich auf ihn zukam und sagte: "Ich bin's!", wie anders
war die Lebendige als der gebildete Stein!
Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz sinnlichen
Volke zu leben, über das so viel Redens und Schreibens ist, das jeder
Fremde nach dem Maßstabe beurteilt, den er mitbringt. Ich verzeihe
jedem, der sie tadelt und schilt; sie stehn zu weit von uns ab, und als
Fremder mit ihnen zu verkehren, ist beschwerlich und kostspielig.
Italienische Reise, S.
125.
Caserta
Caserta, den 16. März 1787.
Die lieben Briefe vom 19. Februar kommen heute mir zur Hand, und gleich
soll ein Wort dagegen abgehen. Wie gerne mag ich, an die Freunde denkend,
zur Besinnung kommen.
Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit.
Mir geht es ebenso, ich er kenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer
Mensch. Gestern dacht' ich: "Entweder du warst sonst toll, oder du
bist es jetzt."
Die Reste des alten Capua und was sich daran knüpft, hab' ich nun
von hier aus auch besucht.
In dieser Gegend lernt man erst verstehen, was Vegetation ist und warum
man den Acker baut. Der Lein ist schon nah am Blühen und der Weizen
anderthalb Spannen hoch. Um Caserta das Land völlig eben, die Äcker
so gleich und klar gearbeitet wie Gartenbeete. Alles mit Pappeln besetzt,
an denen sich die Rebe hinaufschlingt, und ungeachtet solcher Beschattung
trägt der Boden noch die vollkommenste Frucht. Wenn nun erst das
Frühjahr mit Gewalt eintritt! Bisher haben wir bei schöner Sonne
sehr kalte Winde gehabt, das macht der Schnee in den Bergen.
In vierzehn Tagen muß sich's entscheiden, ob ich nach Sizilien gehe.
Noch nie bin ich so sonderbar in einem Entschluß hin und her gebogen
worden. Heute kommt etwas, das mir die Reise anrät, morgen ein Umstand,
der sie abrät. Es streiten sich zwei Geister um mich.
Im Vertrauen zu den Freundinnen allein, nicht daß es die Freunde
vernehmen! Ich merke wohl, daß es meiner "Iphigenie"1
wunderlich gegangen ist, man war die erste Form so gewohnt, man kannte
die Ausdrücke, die man sich bei öfterm Hören und Lesen
zugeeignet hatte; nun klingt das alles anders, und ich sehe wohl, daß
im Grunde mir niemand für die unendlichen Bemühungen dankt.
So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für
fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das möglichste
getan hat.
Doch das soll mich nicht abschrecken, mit "Tasso"2 eine
ähnliche Operation vorzunehmen. Lieber würf' ich ihn ins Feuer,
aber ich will bei meinem Entschluß beharren, und da es einmal nicht
anders ist, so wollen wir ein wunderlich Werk daraus machen. Deshalb ist
mir's ganz angenehm, daß es mit dem Abdruck meiner Schriften so
langsam geht. Und dann ist es doch wieder gut, sich in einiger Ferne vom
Setzer bedroht zu sehen. Wunderlich genug, daß man zu der freisten
Handlung doch einige Nötigung erwartet, ja fordert.
1
Goethe bearbeitet in Italien den mythischen Stoff der lphigenie, den bereits
die antiken Dichter Äschylos, Sophokles und Euripides behandelt haben.
"lphigenie auf Tauris" wird 1800 in Wien uraufgeführt.
2
Während seiner Italienreise schreibt Goethe auch an seinem Werk Torquato
Tasso", das 1807 in Weimar uraufgeführt wird.
Italienische Reise, S.
207 f.
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