Reise
als Erfahrung
Die
sprachlichen Wurzeln
Die Fahrt
war die älteste Umschreibung des Reisens; sie geht auf das althochdeutsche
und seit dem 8. Jahrhundert bestehende Wort fart, bzw. faran zurück.
Die Kreuzritter >fuhren< ins Heilige Land, umherziehende Schausteller,
Sänger und Gaukler waren >fahrendes Volk<, Fromme, die es zu
heiligen Stätten zog, die Wallfahrer.
Die Angaben für die erstmalige Verwendung des Wortes reisen
variieren zwischen dem 9. Jahrhundert und Mitte des 14. Jahrhunderts.
Ursprünglich kommt das Wort aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet
>Aufbruch; Unternehmen, Zug, Fahrt; Heerfahrt<. Die althochdeutschen
Verben risan, bzw. das mittelhochdeutsche risen
>sich von unten nach oben bewegen, sich erheben, steigen; sich von
oben nach unten bewegen, fallen<, das gotische ur-reisan
>aufstehen, sich erheben<, das englische to rise >aufstehen,
sich erheben, steigen<, das altisländische risa
>sich erheben, entstehen< gehören alle derselben Sprachfamilie
an. Diese germanische Wortgruppe ist eng verwandt mit der baltoslawischen
Sippe des russischen ristat' >schnell laufen, rennen<
und ebenso mit dem altindischen rináti >läßt
laufen; läßt fließen; läßt entrinnen<,
rití-h >Lauf,' Strom; Lauf der Dinge, Art und
Weise<, wie auch dem lateinischen rivus >Bach.
Die indoeuropäisch Wurzel des englischen Wortes für >Erfahrung<,
nämlich experience, lautet *per a.
*per drückt einerseits Bewegung aus: >einen Raum durchqueren,
ein Ziel erreichen, herausgehen<, und hat andererseits die Bedeutung
von >versuchen, ausprobieren, riskieren< ? was sich im lateinischen
periculum >Versuch, Probe< aber auch >Gefahr,
Wagnis<, ausdrückt. Eine solche Vorstellung von Gefahr und Prüfung
entspricht wohl den ältesten Vorstellungen vom Reisen, welches strapaziös
und leidvoll war. Das klingt auch im englischen Wort travel
an, eng verwandt mit dem ebenfalls englischen travail >Mühen<
und dem französischen travailler >arbeiten<.
Im Mittelalter erhielt das Wort dann eine kriegerische Konnotation: reisen,
bzw. reisic stand für >auf der Reise befindlich;
zur Heerfahrt dienend; gerüstet; beritten<, Reisige
waren berittene Söldner.
Die Etymologie der indoeuropäischen Sprachen zeigt, daß die
Begriffe des >Reisens< und der >Erfahrung< in enger Beziehung
zueinander stehen. So bedeuteten das althochdeutsche irfaran
und das mittelhochdeutsche ervaran ursprünglich >reisen;
durchfahren, durchziehen; erreichen<. Seit dem 15. Jahrhundert wird
das Partizip erfahren adjektivisch benutzt für >klug,
bewandert<. Dazu gehört auch die Erfahrenheit, ebenfalls
ein Wort aus dem 15. Jahrhundert, während Erfahrung,
das mittelhochdeutsche ervarunge, heute verbalsubstantivisch
gebraucht wird, im Sinne von >Wahrnehmung, Kenntnis<, damals auch
für >Durchwanderung, Erforschung<. Ein kluger Mensch wird heute
noch als bewandert bezeichnet, ein Ausdruck, der sich ins
17. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und >aus eigener
Erfahrung kennend<, eigentlich >vielgereist< meint. Ein Gebildeter
im philosophischen Sinne des Wortes ist ein >Mann von Welt< Den
lehrreichen Charakter des Reisens betont auch der Begriff der >Bildungsreise<,
die es von der Antike bis in die heutige Zeit hinein, aufgewertet zur
>Studienreise< gibt.
Unsere Alltagssprache enthält noch immer eine Vielzahl von Wegmetaphern:
grenzüberschreitend, abwegig, Fortschritt, bahnbrechend, in Bewegung
geraten, Zugang haben, neue Wege einschlagen, Umkehr. Ausweg,
unsere Vorfahren - um nur einige zu nennen. Die Metaphern
sind durchaus international: Eine Südamerikanische Revolutionsbewegung
nennt sich Sendero luminoso, Der leuchtende Pfad - wobei
die Weg-Metapher hier offenbar eine Assoziation von >dunkler< Gegenwart
und >heller< Zukunft (nach der Revolution) herstellen soll.
Ab dem 16. Jahrhundert setzt sich der Begriff der tour durch.
Dieses dem Französischen entstammende Wort steht für >Ausflug,
Fahrt, Wanderung, Wegstrecke<. Es meint aber auch >Drehung, Wendung,
Umlauf, bzw. einen sich wiederholenden Bewegungsablauf, eine Art des Vorgehens,
eine Verhaltensweise<: Die tour de promenade bzw. tour
du propriétaire war der abendlich-beschauliche Spaziergang
um den Besitz. In der Ausdehnung des Begriffes zeigt sich bereits die
strukturelle Veränderung: Reisen wird zu einer wiederholbaren, nachvollziehbaren
Tätigkeit. Dreihundert Jahre heißt es im Deutschen Wörterbuch
von Grimm, ein Tourist sei ein Reisender, der zu seinem Vergnügen,
ohne festes Ziel, zu längerem Aufenthalt sich in fremde Länder
begibt, meist mit dem Nebensinn des reichen, vornehmen, unabhängigen
Mannes.
Im 19. Jahrhundert veränderte sich das Reisen, nicht zuletzt durch
den Einsatz neuer Verkehrsmittel, drastisch. Nicht mehr länger nur
als Tätigkeit oder Fortbewegungsart beschrieben, wird Reisen zum
Fremdenverkehr und der individuelle Aufbruch des einzelnen
vom umfassenden System der Reise- und Tourismusbranche absorbiert. Ist
Fremdenverkehr noch ein qualitativer, wenn auch stark ökonomisch
orientierter Begriff, so findet beim Tourismus bereits eine
quantitative Verschiebung statt. Tourismus ist das Reisen der Vielen überall
hin - weshalb bald die Ausweitung zum Massentourismus nahelag.
Grenzüberschreitend wie das Phänomen ist auch die Vokabel: Tourismus
ist ein international eindeutiger Begriff.
a Die Kenneichnung * besagt, daß es
sich um eine Rekonstruktion auf der Grundlage lebender und toter Sprachen
handelt.
(aus: Hlavin-Schulze,
Karin: "Man reist ja nicht, um anzukommen". Reisen als kulturelle
Praxis, Frankfurt/New York 1998, S.13-15)
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