GLÜCKSGEFÜHLE
die zeit: Gleich vorn in Ihrem Buch Haut des Südens, das von einer Mississipi-Reise erzählt, zitieren Sie Paul Valéry: "Durch den Körper wird das Denken erst ernst." Wer Ihre Bücher liest, würde den Satz variieren: "Durchs Reisen erst wird das Denken ernst." Reisen Sie deshalb? Michael Roes: Für mich ist das Reisen eine Art zu denken. Wenn ich in einen Gedanken wie eingemauert bin, muss ich mich entfernen, in einer äußeren wie inneren Bewegung. zeit: Wie weit kann man sich entfernen? Kann man aus seiner Haut? In der Haut des Südens spielt diese Membran ja eine zentrale Rolle als Schnittstelle zwischen der Welt und dem Ich, als kranke, kulturelle Hülle des Reisenden. Die hinter sich zu lassen - ist dies die Utopie des Reisens? Roes: Früher hieß Reisen, sich einer anderen Kultur und Geografie auszusetzen, und zwar in einer Begegnung mit allen Sinnen. Das war zwangsläufig auch anstrengend. Eine Art Schule der Erwachsenen, in der sich der Mensch veränderte. zeit: Das Gegenteil von Tourismus? Roes: Tourismus und Reise sind Gegenbegriffe. Der klassische Reisende will sich dem Fremden aussetzen, der klassische Tourist will sich vom Vertrauten erholen, indem er in der Ferne vertraute Umstände aufsucht. Tourismus heißt Zerstreuung statt Konzentration, Abschalten statt Aufmerksamkeit, Entspannung statt Anstrengung. Das ist eine neuartige Form des Reisens. Sie kennt keine Reibung zwischen innen und außen, sondern die Ernüchterung, dass man heute eine Reiseerfahrung nur auf Extremreisen machen kann. zeit: Dann ist Reisen, historisch, vorbei? Roes: Weil das touristische Reisen eine Unzufriedenheit hervorruft, weil die Neugier etwas vermisst, vollzieht sich gleichzeitig eine Gegenbewegung dazu: dass nämlich Menschen wieder klassisch reisen wollen. Aber die Fremde nimmt ab. Wir wissen immer schon mehr, als wir vor Ort erfahren, die medialen Bilder stehen der Erfahrung, der Begegnung schon im Wege. Die Unschuld, sich auf neue Bilder einzulassen, ist dahin. zeit: Daran ist auch die Literatur beteiligt. In der Haut des Südens etwa sind die Darstellungen Twains, Faulkners oder Melvilles wie in der Geschichte von Hase und Igel überall schon gewesen und sind von mächtigem Einfluss auf die Wahrnehmung, wenn der Reisende eintrifft. Roes: Was heute vermutlich nicht mehr geht, ist das passive, das rezeptive Reisen, dafür sind wir kulturell zu sehr vorgeprägt. Aber was an die Stelle treten kann, ist ein neuartiges Reisen. Man reist als jemand, der etwas mitbringt: die eigene Kultur, als jemand, der etwas will, nämlich den Dialog und eine Art Zusammenarbeit. Dafür muss ich an einem fremden Ort mehr tun als da sein und beobachten. Meine Utopie ist die gemeinsame Arbeit. Sich kennen zu lernen. Etwas zusammen herzustellen. zeit: Arbeit? Der Kick, beim Reisen das Ich neu zu entdecken, wäre nicht im Spiel? Roes: Das Ich wird durch Verlagerung nicht wahrer oder authentischer. Arbeit verstehe ich als Auseinandersetzung mit der Welt und mit mir, als eine Hoffnung, in der Forschen und Reisen zusammengehören, in der nicht einer den anderen zum Objekt macht. Als ich meinen Macbeth-Film im Jemen gedreht habe, sind wir mit der Frage konfrontiert worden: Was wollen die Menschen hier von uns? zeit: Sie machen keine Erholungsreisen? Roes: Kaum. Ich suche nicht das Vertraute, auch wenn es mir im Fremden begegnet. Meine Grunderfahrung ist, dass es zwischen den Menschen ohnehin mehr Gemeinsames als Trennendes gibt, dass Unterschiede also relativ oberflächlich sind. Was trennt, das sind die Sprachen, die Mythen. Was wir gemeinsam haben, sind elementare körperliche Erfahrungen: Geburt, Hunger, Schmerz, Glück. Das sind die tieferen Erfahrungen. zeit: Liegt darin das Glück des Reisens? Roes: Für das Glück kann man nichts tun. Wenn, dann bekommt man es geschenkt: durch einen Augenblick, der sich nicht festhalten lässt. Ich finde es fast tragisch, die Suche nach dem Glück als Sinn einer Reise oder als Lebenssinn zu definieren. Ich halte es eher mit Freud, der meinte: Dass der Mensch glücklich werde, sei im Plan der Natur nicht vorgesehen. Ich suche beim Reisen die Erfahrung des sich Verirrens, des Schmerzes, der Krankheit. Das Lebendigsein als bewusste Erfahrung mit geschärften Sinnen. zeit: Einmal haben Sie über New York gesagt, Sie liebten die Stadt, weil sie es zuließe, dass jeder ein Fremder ist, weil sie aus Fremden besteht. Fremd unter Fremden: Das allerdings klingt doch nach einer Erfahrung von Glück. Roes: Ein Fremder zu sein, ist kein glücklicher Zustand. Aber mit seiner Fremdheit und in der Fremde dazugehören zu dürfen, das ist doch eine Form des Glücks. Die Tragödie liegt wohl darin, sich zu Hause als Fremder zu fühlen. zeit: Julia Kristeva, die französische Analytikerin, hat Fremdheit und Glück in Verbindung gebracht: Der Fremde eröffne uns eine neue Vorstellung vom Glück, des "immer währenden Übergangs". Roes: Die werdende Identität, die Veränderung, also auch die Enttäuschung von Erwartungen im vertrauten Kreis - das ist tatsächlich ein Raum, der sich in der Begegnung mit dem Fremden öffnet. Aber diesen Raum kann man nicht suchen. Die Erwartung, der andere in der Fremde solle mich Neugierigen glücklich machen - damit kann ich nichts anfangen. zeit: Abstand vom Alltag bedeutet den meisten Glück. Weil sie Alltag unangenehm finden. Roes: Aber das Glück steht doch auch der Begegnung mit dem anderen und mir selbst im Wege. Das Glück hat etwas Bewusstloses. Wer glücklich ist, muss nicht nachdenken, muss sich nicht verändern. Für meine Arbeit wäre Glück fast ein Unglück: Es ist gedankenlos. Das Glücksversprechen ist eine falsche Verführung. Es entfernt uns von uns selbst. Es kann nicht an einen Ort, einen Preis, ein Ereignis, eine Distanz gebunden sein. Das Glück ist nur der Punkt, an dem sich viele Linien unberechenbar kreuzen. zeit: Das moderne Glück auf Reisen hat seinen Ursprung vor etwa 200 Jahren, Sie haben mit Ihrer Figur Schnittke im Jemenroman Leeres Viertel davon erzählt: Der ist der intellektuelle Aufklärer mit erkenntnishungriger, empfindsamer Seele, der aus der Ödnis der heimischen Provinz in die Verheißung der Ferne aufbricht. Ein Narziss, der im Jemen stellvertretend für die Menschheit die verlorenenen mosaischen Tafeln auffinden will. Also den Ursprung der Menschheit retten. Liegt Ihre Sympathie bei Schnittke? Roes: Ihn beneide ich, weil er noch Hoffnungen haben kann, die heute schwer fallen, etwa die Hoffnung der Aufklärung, dass Wissen allein ein Wert ist, der zum Fortschritt und Guten beiträgt. Nun wissen wir, dass uns Wissen allein nicht hilft, sondern zynischer macht. Wir sehen die Verluste an Unschuld, an Spiritualität, sind von Gott verlassen. Wissen ist eben nur ein Werkzeug. Und es gibt keinen Weg zurück hinter die Aufklärung. Aber meine Sympathie liegt bei beiden Hauptfiguren des Buches, auch bei dem Jemenreisenden der Gegenwart, der nüchtern forschend der fremden Kultur begegnet. zeit: Reisen heißt auch, andere Kulturen zu stören, zu zerstören - je mehr wir unsere Art der Neugier importieren. Roes: Das ist der tragische Zynismus: Wir leiden unter dem Sinnverlust und beharren doch als Erben der westlichen Aufklärung darauf, dass unsere Wahrnehmung, unsere Werte, unsere Spielregeln die richtigen sind. Bei jeder wirklichen Reise in eine andere Kultur wird man mit diesem Paradoxon konfrontiert. zeit: Mit Gästen, Reisenden, Fremden hat historisch fast jede Kultur gerechnet. Roes: Weil das so ist und weil die Kulturen dafür Rituale der Gastfreundschaft geschaffen haben, ist Reisen von jeher nicht nur destruktiv. Aber seit dem 11. September sind wir aufmerksamer für unser Privileg, dass wir frei reisen dürfen, während der größte Teil der Weltbevölkerung es nicht kann, weil wir ihnen den Zutritt verwehren. Wir Reichen lassen diejenigen frei einreisen, die uns nützen oder jedenfalls nicht schaden, die anderen schließen wir aus. Wären wir offener, dann würden gewiss viele, die zu uns reisen, aus dem kalten, hässlichen Norden auch wieder fortreisen. zeit: Ihr Roman David Kanchelli lässt einen Diplomaten aus der heilen Welt in die elenden Territorien reisen, von deren Ausbeutung die heile Welt lebt. Kanchelli ergreift Partei für die Elenden. Steckt darin noch eine kleine Utopie des Reisens? Roes: Der neue Roman ist ein utopischer Roman, wider die heutigen Facetten der Globalisierung. Amerikanische Staatsbürger werden heute vor Reisen in ein Dutzend Länder, in halbe Kontinente gewarnt: zu gefährlich. Bald wird es neue Terrae incognitae geben - Länder, die in Unbekanntheit zurückfallen, die abgehängt werden, die man sich selbst überlässt, die im Chaos, im Bürgerkrieg, in Krankheit und Hunger versinken. Sie werden durch unsere Unbeteiligtheit zu mythischen Gebieten werden, wie es Teile von Schwarzafrika heute schon sind. zeit: Haben Sie bei Ihren Reisen solch eine Terra incognita je betreten? Roes: Ich war gerade in Algerien, wo es seit zehn Jahren keinen Tourismus mehr gibt. Aber trotz des Terrors leben dort 20 Millionen Menschen ihren Alltag. Was uns trennt, ist der Mythos Algerien, er hindert uns, die Menschen dort als Freunde kennen zu lernen. Die letzten zehn Jahre haben das Land traumatisiert. Bei Sonnenuntergang erstirbt das Leben, jede Nacht finden Terroranschläge statt, die Opferzahlen gehen in die Hunderttausende, von denen wir nichts mehr hören. Bei meiner zweiten Reise dorthin brachte ich die Idee mit, gemeinsam mit Algeriern einen Film zu machen. Dann sind Freundschaften entstanden, und ich habe erst gemerkt, wie die Menschen und die Kultur unter der Isolierung leiden. zeit: Reisen Sie also auch, weil hierzulande kulturelle Arbeit wenig bedeutet? Weil etwa in Algerien der Intellektuelle noch eine politische Figur ist? Roes: Mich hat die Algerienreise an die Situation Osteuropas erinnert, wo kulturelle Arbeit immer ein Politikum war. Das ist im Westen verloren gegangen. Dass ein Buch politisch brisant ist, bedeutet im Westen nichts mehr. zeit: Es kann nicht jeder zu Filmarbeiten in Algerien aufbrechen. Lässt sich die Erfahrung auch auf anderem Weg machen? Durch Lektüre? Durch Forschung? Und durch welche Art zu reisen? Roes: Wer sich mit Zeit auf eine Reise vorbereitet, auch die Landessprache etwas lernt, also nicht nach den Kriterien der Bequemlichkeit unterwegs ist, der ist zwar noch kein klassischer Reisender, aber auch kein Tourist mehr. zeit: Das sind Lösungen für Einzelne. Aber die Massen sind erholungsbedürftig. Roes: Vielleicht muss man froh sein, dass es den Massentourimus gibt. Wenn all diese Leute wirklich reisen würden, wäre der destruktive Effekt größer als der Gewinn, das Fremde zu entdecken. zeit: Das Fremde kann man, ökologisch verträglicher, beim Lesen entdecken. Wo ist der Unterschied zwischen Reisen in der Bibliothek und denen an fremde Orte? Was kann man nicht lesen? Roes: Lesen und Reisen haben eine Gemeinsamkeit: die Aktivität. Wenn ich es schaffe zu reisen, wie ich lese, nämlich alle Wahrnehmungen als Zeichen zu verstehen, die ich interpretieren muss - dann reise ich wirklich. zeit: Liegt der Unterschied zum Lesen in Valérys Satz, dass erst durch den Körper das Denken ernst wird? Also dadurch, dass der Körper sich beim Reisen auf den Weg macht, beim Lesen nicht? Roes: Ich weiß nicht. Wenn ich lese, fesselt es mich physisch. Eine Lektüre ist körperliche Konzentration, besser vielleicht: Bewusstheit des körperlichen Daseins. Darin ist es dem Reisen verwandt. Es lässt uns den Körper spüren. Klimaveränderungen sorgen dafür, dass wir ganz gegenwärtig sind - der Atem geht anders, die Haut, die Schleimhäute reagieren, der Geschmackssinn bekommt es mit Fremdem zu tun. Früher bin ich auf Reisen oft krank geworden, ein Ausdruck für die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten. zeit: Dann hat das Reisen doch etwas Therapeutisches für empfindsame Seelen. Die brauchen das Reisen als Antidepressivum. Wer hat nun ein Recht auf diesen Kick? Roes: Auf Reisen im weitesten Sinne hat jeder ein Recht, auch wenn es ein Privileg ist. Also auf Lektüre, Bildung, Theater, auf die aktive Interpretation der Welt. Das alte Ideal, sich zu bewegen und dabei anrühren zu lassen, gilt für alle. zeit: Die Erfahrung kann man als Besucher auf der nächsten Intensivstation oder im Asylheim auch machen. Unbekanntes gibt es in der Nähe genug. Roes: Sicher, wo sich einer fremd fühlt, das ist auch eine individuelle Frage. Aber wenn man das Reisen im weiteren Sinn als innere und äußere Bewegung versteht, dann auch aufgrund einer menschlichen Gattungseigenschaft: Wir sind - ökonomisch gesehen - immer Nomaden und - religiös verstanden - immer Pilger gewesen. In diesem Sinne ist Reisen nicht eine Frage des Ortswechsels, sondern eine Frage der inneren Haltung. Sie macht die Differenz aus. Wer nur Erholung sucht, reist nicht. zeit: Erholungsbedürfnis ist legitim. Roes: Ich kritisiere Menschen nicht, die sich an den Strand legen wollen, weil sie nicht mehr können. Reisen und Arbeiten zu verbinden ist ein Privileg. Aber jeder kann das Reisen umdefinieren und sagen: Ich reise ab sofort anders - als Pilger, als Forschungsreisender, als Lesender. |