Rothenburg ob der Tauber: Ein deutsches Rätsel
von Yoko Tawada

Nun sind wir in der Stadt des Mittelalters angekommen", sagte die Fremdenführerin.
"Meinen Sie, daß die Stadt zwar im Mittelalter existierte, aber heute nicht mehr da ist?"
Über meine Frage war sie anscheinend etwas überrascht. Aber sie fand gleich die richtige Antwort.
"Sie müssen selbst herausfinden, ob die Stadt des Mittelalters noch da ist oder nicht. Auf jeden Fall ist diese Stadt wie ein Bühnenbild, das das Mittelalter darstellt."
Das Wort Bühnenbild gefiel mir gut. Ich konnte mir das Mittelalter nicht vorstellen als eine Zeit, die einmal da gewesen und irgendwann für immer vorbei war. Das Mittelalter muß ein Theaterstück gewesen sein, das immer wieder zurückkehrte, wenn es neu aufgeführt wurde. Es war sonderbar, durch ein Tor in eine Stadt einzutreten. In Japan hat es nie eine Stadt gegeben, die von einer Stadtmauer umgeben war. Daher hatte ich auch noch nie ein Stadttor gesehen.
Das Stadttor gab uns das Gefühl, als würden wir ein Gebäude betreten, ein Theater oder ein Museum. Auf die Mauer, genau über dem Eingang, war ein schwarzer Vogel gemalt. Vielleicht war dort bei der Gründung der Stadt ein wirklicher Vogel als Opfergabe hingehängt worden, der später durch das Bild ersetzt wurde. Ich konnte mir vorstellen, daß eine solche Opfergabe die Baumgeister beruhigte, die wegen des Stadtbaus von dem Ort verjagt worden waren.
Über dem schwarzen Vogel war eine viereckige Wanduhr befestigt. Sie erinnerte jeden, der dort ankam, daran, daß man sich innerhalb der Mauer an einer gemeinsamen Zeitvorstellung orientieren sollte. Als ich genauer hinblickte, sah ich einen kleinen Menschenkopf direkt unter der Uhr. Er hatte genau dieselbe Farbe wie der Ziegelstein des Tors, aus dem er herauswuchs. Ich wollte die Fremdenführerin fragen, ob dieser Kopf auch eine Opfergabe war, aber sie stand schon mit unserer Reisegruppe innerhalb der Mauer. Ich warf schnell noch einen letzten Blick auf den Steinkopf: Er hatte keinen eigenen Körper. Er konnte sich nicht von der Stelle fortbewegen, die genau auf der Grenze zwischen der Innen- und der Außenwelt der Stadt lag.
Die mit Steinen gepflasterte Straße ähnelte dem Rücken einer Eidechse. Ein Ladenschild mit einer rätselhaften Form fesselte meinen Blick. Wenn die Zahl Sechs mit ihrem Spiegelbild zusammentreffen würde, könnte eine ähnliche Form entstehen. Als ich die Fremdenführerin fragte, was diese Form bedeute, sagte sie nur, das sei eineBrezel. Ein B-rätsel? Ein schönes Wort. Im Schaufenster sah ich ein Brot, das genau dieselbe rätselhafte Form hatte wie das Ladenschild. Das war also in Stück B-rätsel. Wahrscheinlich bedeutet diese Form etwas Schönes in der Geheimsprache des Bäckers.
Neben dem rätselhaften Brot lagen ein paar kleine Stücke dunkles Brot mit getrockneten Früchten. "Fränkisches Früchtebrot", stand auf dem kleinen Schild. Sie ähnelten den Steinen aus einem Vulkan. Wir kauften gemeinsam ein Stück und probierten es. Einer sagte, es schmecke nach Mittelalter. Ein anderer sagte, es schmecke überhaupt nicht, Brot müsse leicht sein wie Wolken und nicht schwer wie ein Stein. Ein dritter sagte nichts und kaufte gleich fünf Stück davon.
"Das Brot ist der Leib Jesu, so wie der Wein das Blut Jesu ist", erklärte uns die Fremdenführerin, als wir vor dem nächsten Schaufenster stehenblieben. Die kleineren runden Flaschen enthielten eine Flüssigkeit, die grünlich aussah.
"Das Blut?"
Ich war über ihre Erklärung sehr erschrocken, ohne genau zu wissen, warum. Die Fremdenführerin beruhigte mich:
"Sein Blut war selbstverständlich rot, während dieser Wein weiß ist."
Der Weißwein war nicht weiß, sondern durchsicht. Er nahm die Farbe und die Form der grünen, rundlichen Flasche an. Normalerweise kaufte ich mir nie Wein, weil ich keinen trank. Aber es tat meinen Handflächen wohl, die fränkische Weinflasche zu halten und zu streicheln. Ich kaufte mir die Flasche.
Auf der rechten Seite der Straße stellte gerade eine Verkäuferin eine Puppe neben dem Ladeneingang auf.
Die Puppe war fast so groß wie die Verkäuferin und hatte eine stockartige Holznase. Als einer aus unserer Gruppe fragte, ob das die berühmte fränkische Puppe sei, die man in dieser Stadt unbedingt sehen sollte, antwortete die Fremdenführerin lächelnd mit Nein:
"Diese Puppe kommt aus einem Nachbarland und heißt Pinocchio. Also keine fränkische Puppe. Aber wir werden bald die wichtigste Puppe Deutschlands sehen, die wirklich typisch deutsch ist."
Gegenüber von diesem Laden stand eine andere männliche Puppe mit langem, blonden Haar. Sie hielt viele goldene Kugeln in den Händen. Auf jede Kugel war das gleiche Gesicht wie das der Puppe selber gemalt.
"Ist das zufällig die Puppe, die typisch deutsch ist?" fragte eine aus der Gruppe zögernd.
"Nein, nein, sie kommt aus einem anderen Nachbarland. Sie kennen doch die berühmte Schokoladenmarke >Mozartkugel<. Und Mozart ist der Komponist, der durch diese Schokolade berühmt geworden ist. Leider hat er nichts mit dem Fränkischen zu tun. Aber wir werden bald die richtige deutsche Puppe sehen."
In den ersten zwanzig Minuten waren unsere Augen nur von den verschiedenen Schaufenstern gefesselt. Keiner blickte auf die Dächer, Wände und Fenster der alten Häuser. Die Waren im Schaufenster wirkten zugänglicher als die alten Häuser, weil wir sie kaufen und mitnehmen konnten.
Die Fremdenführerin zeigte mit dem Zeigefinger auf gelbe und grüne Fachwerkhäuser und erzählte: Es sei nicht leicht, das mittelalterliche Stadtbild zu erhalten, man müsse dafür auf viele Bequemlichkeiten des modernen Lebens verzichten, aber die Menschen hier täten das, und zwar nicht für die Touristen, sondern für sich selbst.
In Tokyo bezeichnet man ein Haus als >alt<, wenn es über dreißig Jahre alt ist. Viele Häuser werden abgerissen, bevor sie zwanzig Jahre alt werden. Die Architektur ist in Japan eine der vergänglichsten Formen der Kunst. Vielleicht war das der Grund, warum es mir so schwerfiel, zu glauben, daß diese alten Fachwerkhäuser tatsächlich dort standen. Mir kam es vor, als würden sie schwanken, verschwimmen und meinem Blickfeld entgleiten. Erst durch die Linse meines Fotoapparates konnte ich die Stadt richtig betrachten, die auf einmal klein wie die Bühne eines Puppentheaters aussah. Sie war eingerahmt und wirkte weiter entfernt von mir als vorher.
Ich erinnerte mich an eine japanische Sage von dem sogenannten Fuchsfenster: Wenn man allein im tiefen Gebirge unterwegs war, bekam man manchmal das Gefühl, als würde man unversehens eine seelische Grenze überschreiten und somit nie wieder als zivilisierter, vernünftiger Mensch in die Stadt zurückkehren können. In dem Fall sollte man schnell mit beiden Händen einen Kreis bilden und durch diese Öffnung die Naturlandschaft noch einmal betrachten. Dadurch konnte man es vermeiden, die gefährliche Grenze zu überschreiten und verrückt zu werden. Den Kreis, den man mit den Händen bildete, nannte man das Fuchsfenster. Mit dem Fotoapparat verhielt es sich ähnlich: Der Fotoapparat ist das Fuchsfenster für die Reisenden im Ausland. Während die alten Häuser durch die Kameralinse wie Puppenhäuser aussahen, wirkten die krummen Gassen frech und gefährlich auf mich. Sie waren wie Riesenschlangen mit grauen Schuppen. Schon bevor man die Häuser baute, hatten sich diese Schlangen vermutlich überall kreuz und quer hingelegt. Anscheinend durften die Menschen beim Bauen die schlafenden Schlangen nicht wecken.
In Tokyo sind die Gassen nichts anderes als schmale Freiräume, die zufällig zwischen Gebäuden entstehen. Aber hier in Rothenburg haben die Gassen ein Selbstbestimmungsrecht. Auch wenn man eine Kirche vergrößern wollte, durfte man nicht einfach eine Gasse vernichten - erzählte uns die Fremdenführerin -‚ es konnte im Notfall sogar passieren, daß die Gasse durch den neugebauten Teil einer Kirche hindurchführte.
Eine Konditorei. Im Schaufenster lag kugelförmiges Gebäck, das an ein menschliches Gehirn erinnerte. Einige Stücke waren mit Puderzucker bestreut, andere mit Schokolade überzogen. Die Oberfläche der Kugeln bestand nur aus tiefen Rillen. Die Form dieser Kugeln fand ich genauso rätselhaft wie die der Brezeln. Die Aufgabe eines Bäckers war es scheinbar, Rätsel herzustellen, die die Menschen nicht lösen aber essen konnten. Ich wußte endlich, warum ich mir den deutschen Bäcker immer als eine romantische Figur vorgestellt hatte. >Schneeball< hieß dieses Gebäck, und zwar nicht nur das weiße, sondern auch das schwarze, das mit Schokolade überzogen war.
Ein deutscher Uhrmacher hatte für mich eine ebenso märchenhafte Anziehungskraft wie ein deutscher Bäcker. In einem Uhrengeschäft hatte man schon mit meiner Sehnsucht nach dem Uhrmacher gerechnet, denn im Schaufenster gab es ein Schild in japanischer Sprache; "Sie bekommen hier die Werke eines echten deutschen Handwerkers. Hier können Sie auch in Yen bezahlen." Mein Traum war dort mit Yen bezahlbar Leider ist aber alles, was man in eigener Währung bezahlen kann, kein Traum mehr.
Ein Käfig hing vor dem Mittelalterlichen Kriminalmuseum. Man sah keinen Vogel im Käfig, dafür war er auch zu groß. Es sei der Käfig für den Bäcker gewesen, erklärte uns die Fremdenführerin. Wenn das Brot nicht das vorgeschriebene Gewicht hatte, wurde er in den Käfig gesperrt und in Wasser getaucht. Das war für mich nicht leicht zu verstehen: Wenn das Brot zu leicht war, hätte man das Brot in den Käfig einsperren müssen, damit es nicht wegflog, aber doch nicht den Bäcker. Das Brot größer erscheinen zu lassen als es ist, gehört doch zu den wichtigsten Aufgaben des Bäckers. In Japan sieht jedes Brot größer aus als es ist. Warum sollte ein Bäcker deshalb bestraft werden? Wahrscheinlich weil das Brot den Leib Jesu bedeutete Damit durfte man nicht scherzen. Genauso war es mit dem Wein, dem heiligen Blut. Daher gab es Weingläser mit einem Strich, an dem man genau sehen konnte, ob die Menge stimmte. Einen Tag zuvor, als wir solche Gläser in einem Restaurant bekamen, lernten wir schon die außergewöhnliche Genauigkeit der Deutschen kennen. Gläser mit einem Strich gibt es bei uns in einem Labor, aber nicht in einem Restaurant.
Wir waren von dem Kriminalmuseum fasziniert, nicht etwa wegen der heißgeliebten mittelalterlichen Grausamkeit, sondern weil dort eine Reihe von sympathschen Kriminellen dargestellt war: schlechte Musikanten, streitsüchtige Frauen, Hausdrachen und so weiter. Die Kriminellen bekamen interessante Masken, die mich an die mittelasiatischen Theatermasken erinnerten, und wurden auf der Straße zur Schau gestellt. Die Masken hießen Schandmasken, aber für mich wäre es eher eine Ehre als eine Schande, mit diesen ausdrucksvollen Masken vom Publikum betrachtet zu werden. Einem aus unserer Gruppe gefielen die Masken so gut, daß er einen Museumsangestellten fragte, ob er dort welche davon kaufen könnte. Leider gab es keine Schandmasken zu kaufen.
Am Marktplatz standen viele Touristen und blickten ab und zu auf zwei bestimmte Fenster an einem Gebäude, das neben dem Rathaus stand. Einige hielten bereits ihre Videokameras in die Richtung. Bald zeigte der lange Uhrzeiger zum Himmel, die Glocke läutete laut und die Fenster gingen auf. In dem rechten Fenster stand ein dicker Mann, der aus einem Krug Wein trank, und in dem linken Fenster nickte ein anderer Mann.
"Sind das die typisch deutschen Puppen, die Sie vorhin meinten?" fragte ich die Fremdenführerin.
"Nein, nein, die werden wir noch sehen. Haben Sie Geduld."
Es war gut, daß man hemmungslos auf die Puppen starren konnte. Wenn es lebendige Menschen gewesen wären, hätte ich das als unhöflich empfunden.
Die Fenster gingen wieder zu, und die Puppen verschwanden vor unseren Augen. Drei Frauen aus der Gruppe stellten sich vor das Rathaus und baten mich, sie mit ihrer Kamera zu fotografieren. Als ich den Knopf drückte, blitzte ein seltsamer Gedanke durch meinen Kopf: Jetzt wurden die Gestalten der drei Frauen in die Wand des Rathauses, das im 13. Jahrhundert gebaut worden war, projiziert. Das Mittelalter muß das irgendwie gespürt haben.
Endlich kamen wir zu dem Haus, in dem die gesuchte Puppe zu sehen war. Vor dem Haus stand ein Tannenbaum mit Plastikschnee. Die Fremdenführerin zeigte auf ihn und sagte lächelnd:
"Weihnachten ist die schönste Zeit für die Menschen hier, und in diesem Haus kann man das ganze Jahr hindurch Weihnachten erleben.
"Weil der Plastikschnee nicht schmilzt?" fragte einer ironisch.
"Nein, weil die Figuren, die Weihnachten spielen, hier das ganze Jahr tätig sind. Dazu gehört auch unsere Puppe, die wir gleich sehen werden."
Weihnachten war also auch ein Figurentheater, dachte ich mir. Kaum kamen wir hinein, war eine Erklärung auf japanisch zu lesen: "Der Nußknacker ist DIE typischste deutsche Puppe!" Wir starrten auf die Puppe, als könnten wir dadurch verstehen, was typisch deutsch war. Der Nußknacker war ein Spielzeug, das lieber arbeitete als spielte. Seine Aufgabe war es, harte Nüsse zu knacken.
War er deshalb typisch deutsch? Der Nußknacker war das Meisterwerk eines Handwerkers. Gleichzeitig war er selbst ein Handwerker, der mit Nüssen arbeitete. Er arbeitete nicht mit der Hand, sondern mit dem Mund. War das der Grund, warum er typisch deutsch war? In seinem Mund waren prächtige Zähne zu sehen. Wenn er den Mund aufmachte, entstand ein schmerzhaft großes Loch in seiner Brust. Ein Herz hatte er nicht. Trotz seiner militärischen Uniform und seiner strengen Körperhaltung wirkte er humorvoll und etwas kindlich.
In einer engen Gasse spürte ich, wie ich von vielen Augen heimlich beobachtet wurde. Es waren fünf Teddybären, die in einem kleinen Schaufenster eng beieinander saßen. Anders als japanische Teddybären, hatten sie keine Hemmung, Neugierde, Hunger und Bosheit auszudrücken.
"Sie sind nicht niedlich. Sie sehen aus wie echte Bären!" rief eine Frau aus der Gruppe und erzählte mir, daß sie im letzten Herbst am Rand ihres Dorfes sehr oft Bären gesehen habe. In Japan gibt es noch viele Bären, was man gar nicht glauben kann, wenn man nur Tokyo und Osaka kennt. Einige aus der Gruppe kauften die Stofftiere als Erinnerung an die deutschen Bären, die wir gesehen hatten.
Es gäbe in Deutschland schon längst keinen Bär mehr, sagte die Fremdenführerin. Die Herstellung des Teddybären habe Anfang dieses Jahrhunderts begonnen, als die wirklichen Bären aus deutschen Wäldern zu verschwinden drohten. Der Teddybär sei die Ersatzfigur für den wirklichen Bären, den es nicht mehr gäbe.
Nachdem wir das Puppen- und Spielzeugmuseum besichtigt hatten, schrieb ich noch schnell eine Postkarte an meine Familie: "In einem sonderbaren Spielzeugkasten, Rothenburg ob der Tauber, habe ich ein rätselhaftes Brot gegessen." Dann wollte ich mir eine Briefmarke holen und sah einen schwarzen Vogel an der Wand des Postamtes. Es war der Bote, der meine Postkarte nach Japan tragen wollte.

In: Tawada, Yoko: Talisman, Tübingen 20005 .

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Bilder von Rothenburg